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Blick nach links, dabei den Rechtsextremismus im Auge: Klaus Dörre, Foto: Anne Günther

Weder unbedacht noch naiv

Der Soziologe Klaus Dörre analysiert rechts­extreme Tendenzen unter Arbeiter*innen

Kein SrPlus-Artikel

Vorweg eine Einschränkung: Klaus Dörre ist ein Gewerkschaftsdenker. Sein Buch über »Arbeiter*innen und die radikale Rechte« ist Genossen aus der Bildungsarbeit der IG Metall gewidmet, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind die eigentlichen Adressaten dieser Studie. Dörre weiß, dass die hiesigen Gewerkschaften durch ihren Standort-Nationalismus, durch ihr Abnicken jeder neoliberalen politischen Entscheidung der letzten 30 Jahre, ihren »Betriebspatriotismus«, der Stammbelegschaften bevorzugt und Prekarisierte und Leih­arbeiter de facto ausgrenzt, nationalistischen und faschistoiden Tendenzen unter Arbeitern zahnlos gegenüberstehen und sie nolens volens befördert haben.

Dörres aktuelles Buch, auch Summe seiner 25-jährigen Forschung zu diesem Thema, setzt an dieser Bruchstelle an: Aus Kreisen aktiver und geschulter Gewerkschaftsmitglieder hat er das erste Mal offen rechtsradikale Äußerungen vernommen. Und die wurden nicht unbedacht oder naiv geäußert.

Dörre, Soziologieprofessor in Jena, hält aber am antifaschistischen Bildungsauftrag der Gewerkschaften und an solidarischer, keine Schicht von Arbeitern und Angestellten ausgrenzender Lohnpolitik fest. Ob das verzweifelter Optimismus ist oder grob fahrlässig, mag jeder für sich entscheiden. »In der Warteschlange« gewinnt seinen Wert nicht unbedingt durch die politischen Schlussfolgerungen, sondern durch das schiere — theoretische, historische wie empirische — Material, das Dörre und seine Ko-Autorin Livia Schubert ausbreiten. So gründliche und dabei gut lesbare soziologische Studien über den Zusammenhang von rechtsextremen Tendenzen und neoliberaler Ökonomie findet man selten.

Für diesen Zusammenhang verwendet Dörre das Bild der Warteschlange: Es ist die Selbstbeschreibung von Arbeitern, die darauf warten, dass sich die ganze Schufterei für sie endlich auszahlt und die empört und frustriert darüber sind, dass »Minderheiten« angeblich an ihnen vorbeiziehen, weil sie von Staat und Kapital gezielt gefördert wurden. Innerhalb der Warteschlange entstehe dann, so Dörre, eine neue Solidarität, die nur noch die Frustrierten umfasst und die sich nach unten gegen Geflüchtete, prekär Beschäftigte oder Arbeitslose richtet. Eine Tendenz, eine deep story, die sich über dreißig Jahre entwickelt hat. Was bleibt? Konsequente, unbedingte antifaschistisch-gewerkschaftliche Politik. Damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt. Irgendwie traut man das den Gewerkschaften nicht so richtig zu.

Klaus Dörre (unter Mitarbeit von Livia Schubert), »In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte«, Westfälisches Dampfboot 2020, 355 Seiten, 30 Euro